Regentropfen
Es war einmal ein kleiner Regentropfen, der kam von irgendwoher auf diese Erde. Und als erstes traf er auf ein Blatt. Dort ruhte er sich eine Weile aus und genoss, dass er von diesem Blatt gehalten wurde. Es gefiel ihm so gut auf diesem Blatt. Manchmal kam ein leichter Windhauch und der Regentropfen wurde sanft hin und hergeschaukelt. Und egal, was es auch war, er fühlte sich immer sehr geborgen. Dieses Schaukeln war so wohltuend und berührte ihn auf eine ganz besondere Weise. Er spürte, dass er auf diesem Blatt sehr sicher war und genoss dieses Schaukeln noch eine lange Weile.
Aber eines Tages merkte er, dass es noch viel mehr auf dieser Erde gab.
Ganz plötzlich spürte er einen tiefen Wunsch in sich, all' das zu erforschen, was da noch auf ihn wartete. So stellte er erstaunt fest, dass das Blatt an einem Zweig hing und lies sich langsam auf diesen Zweig rinnen und von dort aus auf den dazugehörigen Ast. Anfangs zögerlich, weil er nicht wusste, ob der Ast ihn auch genauso gut halten konnte, wie das Blatt und der Zweig. Später, als er Vertrauen geschöpft hatte, glitt er schon am Baumstamm entlang und spürte die Kraft und Stärke dieses Baumes. Und er nahm die Energie des Baumes in sich auf. Jetzt fühlte er sich so sicher und stark, dass er mit immer größer werdender Freude fühlte, dass er noch viel mehr von dieser Erde sehen wollte. Der Baum stand an einem kleinen Bächlein und der Tropfen beobachtete eine ganze Weile, wie der Bach zuweilen wild, manchmal etwas ruhiger dahinströmte. Dieser wilde kleine Bach zog ihn magisch an und er hatte große Lust, sich in das Treiben einzulassen. Zunächst lies er sich vom Baum vorsichtig auf einen Kieselstein nieder, der dort am Ufer lag. Schon ein bisschen dichter konnte er nun das Fließen des Baches genau beobachten und er fühlte ganz tief in sich eine solche Sehnsucht, in diesen kleinen Bach hineinzuspringen. Er genoss noch eine Weile die Wärme der Sonne und dann war es endlich soweit: Er ließ sich von dem Kieselstein aus ins Wasser fallen und sah erstaunt, dass da noch viele tausend andere Tropfen waren, die auch das Verlangen hatten zu fließen, gemeinsam diesen Bach zu bilden und sich auf eine Reise einzulassen, die unaufhaltsam durch eine unsichtbare Kraft gelenkt zu einem gemeinsamen Ziel zuführen würde. Der Regentropfen fühlte, dass seine Grenzen sich auflösten und er genoss die Kraft und Stärke, die er daraus gewann, ein Teil von einer viel größeren Kraft zu sein.
Der Bach floss unaufhaltsam über Kieselsteine hinweg, an Bäumen, Blumen, Menschen und Tieren vorbei und bahnte sich auch seinen Weg, wenn umgestürzte Bäume sich ihm in den Weg legten. Und als er eine Weile so dahingeflossen war, kam von irgendwoher ein anderer Bach daher und der kleine Regentropfen spürte, dass in dem Moment, wo sich die beiden Bäche zu einem Fluss vereinigten, seine Kraft und Stärke sich um ein vielfaches vermehrte. Nun war er Teil eines breiten, großen Stroms , der weiterhin einem unbekannten Ziel zusteuerte. Es ging nun leichter aber auch ruhiger dahin. Nur noch selten gab es kleine Hindernisse, die den großen breiten Strom aber schon längst nicht mehr aufhalten konnten. Und dann ganz plötzlich war die Fahrt vorbei. Der kleine Regentropfen als Teil des Flusses war im Meer angekommen. In einem einzigen wundervollen Moment erkannte der Regentropfen wohin ihn diese lange Reise geführt hatte.
Jetzt gab es nur noch Stille. Der Regentropfen fühlte eine unendlich schöne Ruhe.
Und das Meer raunte leise: "Deine Reise ist vorbei, du bist angekommen."
Der Regentropfen, der schon längst seine Grenzen nicht mehr spürte, genoss wieder ganz tief in sich das Gefühl von Weite und Freiheit, denn da, wo er ursprünglich herkam, hatte er sie auch gekannt. Nun fühlte er sich endlich wieder wie zu Hause und lies sich einfach nur noch treiben. Es kam schon vor, dass ein starker Wind aufkam und das Meer hin- und hergeschaukelt wurde, aber der Regentropfen in der Tiefe des Meeres spürte davon kaum noch etwas. Er genoss die unendliche Weite und Stille, in der er ruhte und in die er sich immer weiter ausbreiten konnte.
(C) Liedermacherin Bea